Erstmals stellen in den Museen der Stadt Aschaffenburg sehbehinderte und sehende Künstler gemeinsam aus. Sie bieten Kunst zum Anfassen.
hob. ASCHAFFENBURG. Nah herangehen, anfassen, mit den Händen be-greifen – das ist eine neue Erfahrung für Museumsbesucher. Wo sonst Aufseher und Hinweisschilder das Publikum auf Abstand halten, gelten in den nächsten Wochen in der Ausstellung „Das Fassbare und das Unfassbare“ vollkommen neue Regeln. Sehbehinderte und sehende Künstler hatten schon vor drei Jahren die Idee für ein ungewöhnliches Kunstprojekt, das vom 28. Februar bis zum 22. März im Schlossmuseum präsentiert wird.
„Wir wollten etwas Neues wagen“, sagt der Leiter der städtischen Museen, Thomas Richter. Dafür hat er mit seinem Team auch Exponate aus dem Museumsdepot geholt, damit Besucher der Ausstellung sie ausgiebig betrachten und anfassen können. Die Besucher können an einem langen Tisch Platz nehmen und Objekte aus Holz, Keramik und Stein in die Hand nehmen. Besonders gut begreifen lässt sich ein großes, hölzernes Gebäckmodel aus dem 18. Jahrhundert.
Richter betrachtet das Projekt noch als Experiment. Für ihn und seine Mitarbeiter sei dies ein „Lernprozess“ und eine „Chance“, darüber nachzudenken und auszuprobieren, wie das Museum künftig mit seinen Werken umgehen wird. Noch gilt der Hinweis „Bitte nicht berühren“ für das Gros der Exponate, nur in der Ausstellung sind die üblichen Regeln außer Kraft gesetzt. Das müsse man sehr gut mitteilen, damit es nicht zu Missverständnissen komme, so Richter. Das Aufsichtspersonal wurde informiert und geschult. „Sie müssen jetzt entgegen ihrer Ausbildung die Besucher dazu animieren, die Werke zu berühren.“
Die Präsentation der Gemälde und Skulpturen, die die Künstler zum Teil eigens für die Aschaffenburger Ausstellung geschaffen haben, ist ebenso ungewohnt. Bilder wurden tiefer gehängt, damit sie für Kinder und Rollstuhlfahrer besser zu betrachten und zu erreichen sind. Die Tafeln, die über Künstler und Exponate informieren, sind in einer großen Schrift gut lesbar, zum ersten Mal gibt es im Schlossmuseum Hinweistafeln in Brailleschrift.
„Ich führe die Sehenden hinters Licht“, sagt Stephan K. Müller. Der sehbehinderte Künstler aus Bad Homburg macht vor allem Kunst, die zum Anfassen gedacht ist. Gestalten und Erfahren mit allen Sinnen gehören zu den Grundprinzipien seiner künstlerischen Arbeit. Seine Skulptur „Der König und sein Gefolge“ ist nur auf den ersten Blick aus Holz. „Das Auge ist schnell, aber sehr oberflächlich, die Hand ist sehr viel genauer“, so Müller. Nur wer den „König und sein Gefolge“ berührt, erfährt, dass die Köpfe aus Muschelkalk und nicht aus Holz gefertigt sind.
Einige Fotografien der Frankfurter Fotodesignerin Ghomri Wolf-Khosrowi sind bewusst unscharf. Sie sind nicht greifbar und entführen den Betrachter in Traumwelten. Sie vermitteln auch einen Eindruck davon, wie Menschen mit einer Sehbehinderung ihre Umwelt erfassen. Ihre Fotografie „Maßlos“ zum Thema Massentierhaltung hat die Künstlerin speziell für die Ausstellung als dreidimensionale, ertastbare Arbeit verwirklicht. Besucher können die Hühnerfedern, die aus einem Käfig hängen, berühren, die Gitterstäbe anfassen und so die drangvolle Enge in dem Tiertransporter spüren.
Peter Mayer hat eine seiner Skulpturen mit dem Titel „Geborgenheit“ bewusst grob und rau gelassen. Es sei wichtig, die Skulpturen zu fühlen und mit den Händen zu erfahren, hebt der Bildhauer aus Bad Homburg hervor. Barbara Meiler hat mehrere Bilder geschaffen, die zu ertasten sind. „Ein Riesenexperiment“, sagt die Künstlerin aus Karben, die mit Baumrinde, Strukturpaste und Farbe gearbeitet hat. Fühlen und mit allen Sinnen erfahren können Familien mit sehbehinderten Angehörigen oder Kindern von sieben Jahren an bei den Kunsttagen am Wochenende. Peter Mayer und Stephan K. Müller leiten den Workshop vom Samstag bis Sonntag. Die Collagen, die dort aus unterschiedlichsten Materialien entstehen, werden in der Ausstellung gezeigt.
Anmeldungen sind unter der Telefonnummer 0 60 21/4 44 79 50 erwünscht. Eine Podiumsdiskussion zum Thema „Inklusion am Beispiel sehbehinderter Menschen“ steht am Samstag, 21. März auf dem Programm. Beginn ist um 18.30 Uhr im Ridingersaal des Schlosses.
Die Ausstellung „Das Fassbare und das Unfassbare“ ist von Samstag an bis zum 22. März dienstags bis sonntags von 10 bis 16 Uhr besucht werden.
27.02.2015, Frankfurter Allgemeine Zeitung